Begleitender Text zur Ausstellung im MOM Art Space, 01.-11.07.2021

Kuratiert und geschrieben von Charlotte Gaitzsch

Astrid Ehlers Kaltnadelradierungen, Zeichnungen und Installationen eröffnen ihre Perspektive auf scheinbar alltägliche Dinge oder unmöglich scheinende Tatsachen. Mit ihrem jüngsten Werkkomplex We Were Here (2020) verlässt Ehlers nun gedanklich und visuell mit einem pessimistischen, fast schon endzeitlichen Gefühl, die Erde. Ausgelöst wird dieses Gefühl durch den Menschen als (klimatischen) Aggressor im Anthropozän, dem distanzierten Zeitalter der Postdigitalität und erstarkenden Nationalismen, die zur Spaltung der Gesellschaft geführt haben. Dieser Welt kehrt die Künstlerin den Rücken, um sich stattdessen mit großer Neugierde, Forscher*innengeist und Akribie ins Weltall zu wagen.

We were here: soaring (2020)
We were here: soaring (2020)

Im physischen Prozess der Kaltnadelradierung, dem Kratzen der Nadel in die Kupferplatte, versucht Ehlers die Oberfläche zu durchdringen, gleich dem gedanklichen Prozess eines Kratzens an der Oberfläche, um tieferliegende Zusammenhänge und Hintergründe zu erforschen und so zum Kern eines Themas oder Gegenstandes vorzudringen. Versuchte Ehlers bei I am the needle (2019) [siehe hier, hier und hier] durch die (Erd-)Oberfläche hin durchzudringen, den gedanklichen Weg bis zum Erdkern zu schaffen, so lässt sie nun die Gedanken ins All schweifen und begibt sich, ähnlich wie die Sonde Rosetta, auf eine Mission der Ursachenforschung. Der Werkkomplex We were here ist inspiriert von Bildmaterial, das während der Landung der ESA (European Space Agency) Sonde Rosetta auf dem Kometen Tschurjumow-Gerassimenko, dem ersten Kometen, der von einer Sonde erforscht wurde, entstanden ist. Die Mission der Sonde stand im Zeichen der Frage nach dem Ursprung des Lebens. Ziel der ESA-Mission war es herauszufinden, ob Kometen einen essenziellen Part für die Entstehung des Lebens auf der Erde gespielt haben könnten, insbesondere ob sie präbiotische Moleküle sowie Wasser zur Erde gebracht haben könnten. (1) Da auf dem Kometen spezielle Aminosäuren sowie Phosphor nachgewiesen werden konnten, die für die Existenz organischer Organismen wesentlich sind, kann die Hypothese, dass Leben auf der Erde sei aus einer Ursuppe entstanden in Frage gestellt werden. (2)

We were here: mapping (2020)
We were here: mapping (2020)
We were here: framing (2020)
We were here: framing (2020)

Die Arbeit We were here: framing (2020, drei Kaltnadeldrucke auf Büttenpapier, Eichenholzrahmen, 222 x 54 cm) setzt sich aus drei rechteckigen, gerahmten Drucken zusammen, die kurz hintereinander folgende Sequenzen eines Fotoausschnitts zeigen. Vom linken Bildrand überschnitten türmt sich Gestein auf, welches zur Bildmitte hin stark abfällt und flach zum rechten Bildrand ausläuft. Ein unendlicher dunkler Ausblick eröffnet sich, dessen Tiefe nicht ermessen werden kann und durch kleinste wie Regen oder Schnee anmutenden Partikeln unterbrochen wird. Die Künstlerin hat in langwieriger, akribischer Zeichen- und Kratzarbeit die Aufnahmen der Sonde Rosetta auf dem Kometen Tschuri nachgearbeitet.

Sowohl die Sonde Rosetta als auch ihr Lander Philae sind nach ägyptischen Orten benannt, die wesentlich für die Entschlüsselung der Hieroglyphen waren. In der ägyptischen Hafenstadt Rosette wurde der Stein von Rosette (3) mit drei Schriftblöcken in Hieroglyphen, Demotisch und Altgriechisch, entdeckt, während auf der Nilinsel Philae ein Obelisk mit Inschriften in Griechisch und in Hieroglyphen gefunden wurde. Der Obelisk war der Schlüssel, um den Text und die Hieroglyphen des Steins von Rosette vollständig zu entschlüsseln. (4) Unerwartet stellt sich eine Analogie zwischen dem schwarzen Stein aus Grandorit (mit Granit verwandtes magmatisches Gestein), in den Schriftzeichen 196 v. Chr. eingeritzt wurden (5) und der künstlerischen Praxis Ehlers ein. Begonnen hatte die Künstlerin mit dem gefundenen Bildmaterial der Landung, das sie faszinierte. Im Laufe ihres Schaffensprozesses begann auch eine wissenschaftlich interessierte Recherche, wodurch sich formale als auch gedankliche Verbindungen eröffneten. Eine weitere Entdeckung ist die Tatsache, dass sich an Bord der Sonde Rosetta, die nach einem kontrollierten Absturz auf dem Kometen verblieben ist, eine Rosetta Disk befindet. Diese wird zur Langzeitarchivierung genutzt und dokumentiert die Sprachen der Menschheit. In die 7 cm großen Scheibe aus Nickellegierung werden geschriebene und gezeichnete Informationen eingeätzt, da davon ausgegangen wird, dass diese Methode digitale Formate überlebt und in fernen Zeiten mithilfe von optischen Geräten lesbar gemacht werden kann. (6)

Zwei Merkmale dieser Nickelscheibe knüpfen direkt an die künstlerische Praxis Ehlers an: Zum einen der Prozess des Einritzens einer Botschaft (im Fall der Rosetta Disk in Metall), welche im Zuge eines Transformationsprozesses erneut erst sichtbar gemacht werden kann. Auch die in die Kupferplatte gekratzte Zeichnung benötigt Farbe und Papier, um sichtbar gemacht werden zu können. Zum anderen handelt es sich bei der Rosetta Disk, wie auch bei den Arbeiten der Künstlerin um Spuren, welche die Spezies Mensch hinterlässt. Mit dieser Sammlung aller dokumentierten menschlichen Sprachen wird sich in Form der Rosetta Disk via Sprache als eine der wesentlichen menschheitsgeschichtlichen Errungenschaften ins Universum eingeschrieben. Die auf der Rosetta Disk und in den Werken gesicherten Geschichten, lassen sich im Sinne Donna Haraways nicht nur als bewahrend, sondern vor allem auch als zukunftsweisend verstehen. Die Informationen, die gesammelt wurden, können als produktiver Ausgangspunkt für spekulative Zukunftsentwürfe dienen. Im Sinne der von Haraway beschriebenen Methode des SF, das für spekulative Fiktion oder speculative fabulation, sience fiction, science fact, speculative feminism, soin de ficelle, so far, … stehen kann, wird das Erzählen von Geschichten zukunftsstiftend. Mit dem Einnehmen neuer Perspektiven werden Welten entworfen, die auch als Fiktion bereits Einfluss auf die Realität unserer Gegenwart nehmen und diese so verändern können. So wird der Faden, welcher mit dem tatsächlichen Fund der Aminosäuren und des Phosphors der Mission, die für das Leben organischer Organismen essenziell sind und in Ehlers Arbeit anklingt, aufgegriffen: In einem fabulierten Szenario haben Spuren von DNS, Samen oder anderem organischen Material an der Sonde gehaftet und werden nun auf der Kometenoberfläche konserviert oder eingeschlossen. Sollte es eine andere Spezies geben, die – gleich dem Menschen – auch auf der Suche nach organischem Material ist, könnte diese wiederum in Milliarden von Jahren auf die menschlichen, von der Erde ins All transportierten Partikel stoßen. Diese könnten wiederum der anderen Spezies zu Leben verhelfen und somit eine Art Fortbestehen des Homo Sapiens in transformierter Form gesichert sein.

MAGIC (2021)
MAGIC (2021)

Die Bezüge zur Erforschung des Weltraums durch die Wissenschaft sind auch in der Installation MAGIC (2020, 300 x 300 cm, Papier, Graphit, Ferrit-Magneten, Gaze, Kupferrohre) zentral. Für diese Arbeit hat sie 247 quadratische Papierbögen intensiv mit Graphit schraffiert, die wiederum gemäß dem Aufbau eines Teleskopspiegels auf Gaze angeordnet sind.
Eine Möglichkeit, um Informationen oder Strahlung aus dem All auf der Erde zu empfangen sind Spiegel. Die beiden MAGIC-Teleskope (engl. Major Atmospheric Gamma-Ray Imaging Cherenkov Telescopes) auf dem Roque de los Muchachos der Kanarischen Insel La Palma sind speziell für Gammastrahlung ausgerichtet. Astrid Ehlers war nicht nur durch ihre formale Ästhetik und den Umstand, dass durch sie eine Verbindung zwischen Erde und Weltall besteht fasziniert, sondern gleichzeitig auch von den diversen Bedeutungen von Spiegeln.
Spiegel kommen nicht nur als Alltagsgegenstände oder in der Forschung zum Einsatz, sondern verfügen über eine symbolische Bedeutungsdimension. So stehen sie nicht nur für Eitelkeit und Wolllust sondern auch für Selbsterkennung, Wahrheit und Klugheit. Der Aspekt des Wissensgewinns spielt auch in der Nutzung von Spiegeln für eine Kontaktaufnahme mit dem All hinein. Beispielsweise nutze John Dee (1527-1608), Mathematiker, Astronom, Astrologe, Geograph, Mystiker und späterer Berater der englischen Königin Elisabeth I. im 16. Jahrhundert eine polierte schwarze Obsidianscheibe (7) zur Kommunikation mit Engeln. Mit Hilfe eines spiritistischen Mediums versuchte er Visionen von Engeln in der reflektierenden Oberfläche des Spiegels heraufzubeschwören. Der Spiegel, gefertigt aus Obsidian, einem natürlich vorkommenden vulkanischen Gesteinsglas wurde im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts aus Mexiko nach Europa gebracht. Ursprünglich nutzen aztekische Priester dieses Objekt im Rahmen von kultischen Handlungen, um Prophezeiung vorauszusagen. (8) 

MAGIC (2021) - detail
MAGIC (2021) – detail

Sinnfällig ist die Parallele der Nutzung des Spiegels im mystischen als auch im wissenschaftlichen Kontext. Ziel der beiden Disziplinen ist eine Information aus dem Weltall bzw. Welten jenseits des Irdischen auf der Erde zu manifestieren. Somit handelt es sich hierbei nicht um eine Reflexion des Gegenübers im Spiegel, sondern er dient dazu mehr zu sehen, den eigenen Horizont zu erweitern und Dinge sichtbar zu machen, die außerhalb des eigentlichen Blickfeldes liegen. In diesem Beispiel wird deutlich, dass unterschiedliche Vorstellungskonzepte zu unterschiedlichen Perspektiven auf das gleiche Phänomen oder die gleiche Tatsache führen können. Deutlich wird, dass das Weltall als Sehnsuchtsort als auch als wissenschaftliches Forschungsgebiet fungiert und somit aus verschiedenen Perspektiven gen Himmel geblickt wird. Denn um ein besseres Verständnis für die eigene (Um-)Welt zu erlagen, hat den Menschen stets die Erforschung anderer Welten angetrieben und inspiriert.

OSIRIS, I (2020)
OSIRIS, I (2020)

Eine weitere Arbeit im Komplex ist OSIRIS, I (2020, Buntstift auf Papier, 54 x 76 cm). Zu sehen ist ein Malachit farbener und strukturierter Kreis, der den Buchstaben „I“ einschließt. Der Titel stellt ein Wortspiel mit der Bezeichnung des wissenschaftlichen Kamerasystems der Rosetta-Mission OSIRIS (Optical, Spectroscopic and Infrared Remote Imaging System) dar. (9) Das Akronym lässt an den ägyptischen Gott des Jenseits und der Wiedergeburt Osiris denken. Bereits in vorangegangenen Arbeiten spielte Ehlers mit dem Buchstaben „I“ sowie der phonetischen Aussprache des Englischen eye – Auge und dem englischen Personalpronomen „I“, zu Deutsch „ich“. Offen bleibt um welches Ich es sich handelt, jedoch wird der:die Betrachter:in in der Rezeption des Werkes auf sich selbst als betrachtendes Ich verwiesen. Die mögliche Rückbesinnung auf das Selbst reflektiert dabei das Verhältnis von Werk und Publikum und kann gleichsam ausgehend vom Titel der Arbeit Assoziationen der eigenen Endlichkeit aufrufen. Das Ich kann stellvertretend für die Menschheit gelesen werden. In Anknüpfung an den Gedanken, dass menschliche Nanospuren auf dem Kometen hinterlassen worden sein könnten, lebt dieses Ich als Verweis auf die Menschheit in diesen Substanzen weiter bzw. es kann aus ihnen potenziell wieder neues Leben entstehen. So schließt sich der Kreis zur ägyptischen Mythologie, denn Osiris ist nicht nur als Totengott, sondern wurde auch als Gott der Wiedergeburt verehrt.

Astrid Ehlers We were here: observing
We were here: observing (2020)

Ehlers begibt sich auf eine künstlerische Forschungsreise, wozu sie eine gedanklich-räumliche Distanz nutzt, um einen Blick zurück auf die Welt zu werfen und dabei ganz unerwartete und erstaunliche Entdeckungen macht sowie Zusammenhänge feststellt. Ist doch beispielsweise die Sonde nach dem Fundort des Steins von Rosette benannt. Je mehr faktische Details durch Recherche aufgedeckt werden, desto deutlicher werden zufällige Analogien oder inhaltliche Zusammenhänge. Lokal auftretende Probleme oder Phänomene stehen unverkennbar in einer globalen Verflechtung, folgen oder reagieren dementsprechend nicht zwangsläufig linear aufeinander, sondern je nach (Gedanken-) Vernetzung können sich neue Perspektiven eröffnen. Jede einzelne Arbeit bildet einen Ausgangspunkt, die eine Geschichte erzählt, netzartig können die Werke untereinander verknüpft und somit weitergesponnen werden. Entstanden sind eine Reihe von Arbeiten, die Ausdruck dieser Gedankenreise sind und zwischen Melancholie und hoffnungsvoller Entdeckungsfreude changieren.

We were here: reinforcing (2020)
We were here: reinforcing (2020)

(1) https://www.innovations-report.de/fachgebiete/physik-astronomie/alma-und-rosetta-weisen-freon-40-im-weltall-nach/, Aufruf: 17.06.2021
(2) https://www.esa.int/Space_in_Member_States/Germany/ Rosettas_Komet_enthaelt_die_Bausteine_des_Lebens, Aufruf: 17.06.2021
(3) Der Stein von Rosette befindet sich im British Museum, London
(4) https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/stein-von-rosette/#s22, Aufruf: 17.06.2021
(5) https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/stein-von-rosette/#s7, Aufruf: 18.06.2021
(6) https://blog.longnow.org/02014/08/08/after-more-than-a-decade-esas-rosetta-mission-arrives-at-comet-67p/, 18.06.2021
(7) Der Obsidianspiegel befindet sich im British Museum, London
(8) http://northernrenaissance.org/notes-on-john-dees-aztec-mirror/, Zugriff: 20.06.2021
(9) https://www.mps.mpg.de/1845506/OSIRIS, Zugriff: 20.06.2021