I am the needle: Astrid Ehlers’ neue druckgrafische Arbeiten und Zeichnungen

von Belinda Grace Gardner

– Können wir nicht auf elektrische Erscheinungen rechnen, die uns Licht gewähren, und selbst auf die Atmosphäre, welche bei Annäherung an das Centrum durch ihren Druck leuchtend werden kann?

– Ja, sagte ich, ja! Das ist möglich, nach Allem.

– Das ist gewiß, erwiderte mein Oheim triumphirend; aber nur stille, verstehst Du? Kein Wort von alle diesem; kein Mensch soll die Idee bekommen, vor uns das Centrum der Erde zu entdecken. (1)

Man nehme einmal an, eine Nadel habe die Fähigkeit, allein kraft ihrer Form und eines spezifischen Gewichts bis zum Mittelpunkt der Erde vorzudringen: Diese Vorstellung entspringt einer Geschichte aus Astrid Ehlers’ Kindheit. Sie evoziert Jules Vernes phantastische Exkursion ins Erdinnere, die von einem geheimnisvollen Code aus ihren Anfang nimmt und den Geist der Aufklärung im 19. Jahrhundert visionär vergegenwärtigt. Bis heute entzieht sich die genaue Beschaffenheit des in 6.371 Kilometer Tiefe liegende eiserne Zentrum unseres Planeten der genauen Analyse. Auch wenn die Erdkruste mit einem Ausmaß von 5 bis 80 Kilometern vergleichsweise dünn ist, so verhindern die darauffolgenden steinernen und flüssigen metallenen Schichtungen mit ihrer ungeheuren Kompression und Hitze eine weitergehende Erforschung. Der Mittelpunkt der Erde ist eine Terra incognita, eine schwarze Materie, die bis auf Weiteres unergründlich bleibt. (2)

In Astrid Ehlers’ Werkfolge I am the needle von 2019 ist an die Stelle der Unmöglichkeit die Dimension des Möglichen getreten. Die Nadel trifft auf den Mittelpunkt und entspricht in umgekehrter Richtung dem halben Durchmesser des Kreises, der die Erde symbolisiert (siehe die Zeichnungen I am the needle: circle 1; circle 2). Die konzeptuellen druckgrafischen und zeichnerischen Arbeiten der Künstlerin verkörpern zugleich eine Buchstäblichkeit und eine weit darüber hinausreichende ästhetische Systemsprengung. Der übergeordnete Titel I am the needle bezieht sich einerseits ganz konkret auf den Vorgang des Einritzens eines Bildes mit der Radiernadel in die Druckplatte oder den Druckstein, den Astrid Ehlers um den Prozess des Einschreibens einer visuellen Gestalt in eine Papiergrundlage mit dem Zeichenstift erweitert. Zum anderen verweist I am the needle auf die Idee des künstlerisch schöpferischen, nach Erkenntnis forschenden Subjekts, das selbst als “Nadel” dem Mittelpunkt der Erde, dem Ort, an dem alles zusammenfließt und der alles zusammenhält, entgegenreist.

Die Vorlage zur Weltkugel, die in I am the needle: view (Kaltnadelradierung) vor hellem Grund schwebt, ist einer NASA-Aufnahme der Erde vom All aus entnommen. In Astrid Ehlers’ Übersetzung sehen wir eine von Turbulenzen erfasste Erde, die bei näherer Betrachtung die Umrisse von Nord- und Südamerika zeigt. In den weiteren, abstrakteren Blättern der Werkreihe wird das Spiel der Künstlerin mit Fläche und Raum, Negativ und Positiv ersichtlich. So auch in der in tiefsten dunklen Grauschwarz-Abstufungen auftretenden Gruppe von Graphitzeichnungen I am the needle: circle 1, circle 2 & center. Hier folgt man der bereits genannten Linie in der Länge des halben Durchmessers des dargestellten (Erd-)Kreises, die einmal extraterritorial wie eine lange Nadel den geschlossenen Kreis berührt, ein anderes Mal vom Rand aus auf die Mitte des Kreises zuläuft. Im dritten Blatt, I am the needle: center, formt nun das Wort “I” (dt.: ich, phonetisch im Engl. mit Referenz zu “eye“, dt.: Auge) am Schnittpunkt von zwei sich kreuzenden Linien den Auftakt zu einer sich trichterförmig verjüngenden Gestalt aus Buchstaben. Letztere kodifizieren verbal-bildlich den selbstreferenziellen Satz “I am the needle” in den stilisierten Umrissen einer Radiernadel.

Vom Schnittpunkt aus führen die Linien mit Unterbrechungen bis zu den vier Bildrändern und definieren so nicht nur das Zentrum des gedachten Kreises, sondern auch die Eckpunkte des Bildes. Die sich überlappenden Striche der Graphitzeichnungen, die die Kreisformen I am the needle: circle 1 und circle 2 sowie den quasi geozentrischen Kreuzungspunkt in I am the needle: center generieren, verdichten sich zu einer Fläche der räumlichen Tiefenwirkungen, die das Licht zugleich schlucken und zurückwerfen. Deren visuelle Beschaffenheit lässt an den aztekischen Obsidian-Spiegel des englischen Renaissance-Mathematikers, Astronomen, Alchemisten und Mystikers John Dee (1527–1608/09) denken, der diesem über darin angeblich sichtbar werdende Symbole als Medium zwischen der irdischen Welt und der außerirdischen Sphäre der Engel diente. Dees auf Punkt, Linie und Kreis reduziertes Welt(Raum)System schlägt wiederum einen Bogen zu den Grundelementen der Zeichnung, aus denen in den Arbeiten von Astrid Ehlers ebenfalls ein ganzes Universum erwächst.

Im Zentrum des Welt-Raums steht das “Ich“, von dem aus dieser überhaupt erst denk- und wahrnehmbar wird. Auch dies ist den Arbeiten der aktuellen Werkserie der Künstlerin inhärent. Eine Figur, die zugleich höchste persönliche Präsenz und größte Abstraktion vermittelt, ist die tatsächlich feinstoffliche Spur, die die Nadel beim Zeichnen auf dem Untergrund hinterlässt. Dieser zarte materielle Imprint manifestiert sich in I am the needle: line in starker Vergrößerung als Furche, die im Flachdruckverfahren der Algrafie fast fotografisch erscheint. Maßeinheiten verweisen auf die Tiefe der Linie, die Rückbezüge auf den Krafteinsatz ermöglicht, den Astrid Ehlers beim Ansetzen der Radiernadel eingebracht hat. In I am the needle: hole tritt der virtuelle Erdkern entsprechend als helle, von dunklem, strahlenförmigem Linien-Cluster umgebene Aussparung in Erscheinung: ein leeres Zentrum, in dem sich zugleich die Energie der zeichnerischen Arbeit mit der Nadel bündelt. Das künstlerische Vehikel, Zeich(nung)en zu setzen, wird in I am the needle: self schließlich in hellem Buchstaben “I” (ich) auf hellem Grund zum Selbst-Bildnis, das am Kreuzungspunkt der imaginären Welt-Mitte beides impliziert: die künstlerische Akteurin und ihr Werkzeug, die Nadel, die als Vehikel der Weltaneignung, -reflexion und –darstellung ins Zentrum der Erkenntnis und von dort aus immer wieder zu neuen Bildgebungen führt.

(1) Zit. nach: Jules Verne: Reise nach dem Mittelpunkt der Erde, Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band III, Kapitel 6,
Das Centrum der Erde, Wien, Pest, Leipzig 1874 (https://gutenberg.spiegel.de/buch/reise-nach-dem-mittelpunkt-der-erde-4012/6, 16.09.2019)

(2) Vgl. David Bressan, Eine Reise zum Mittelpunkt der Erde mit Jules Verne, unter: SciLogs, Geschichte der Geologie, 8. Februar 2017 (https://scilogs.spektrum.de/geschichte-der-geologie/eine-reise-zum-mittelpunkt-der-erde-mit-jules-verne/, 16.09.2019)